„Die persönlichen Lebensgeschichten Holocaust-Überlebender können unsere Gesellschaft verändern. Sie helfen jungen Menschen, Geschichte zu begreifen. Unser Anteil hieran ist, die Geschichten der Zeitzeuginnen nicht verstummen zu lassen, sondern möglichst viele (junge) Menschen zu befähigen und zu ermutigen, diese als Zweitzeuginnen weiterzutragen.“ Das ist die Mission von Zweitzeugen e.V., wie sie auch auf der Homepage nachzulesen ist (https://zweitzeugen.de).
Das Lessing-Gymnasium hat nun einen Kooperationsvertrag mit Zweitzeugen e.V. unterzeichnet. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Stimmen der Zeitzeugen zu bewahren und ihre Erfahrungen an die Jugend weiterzugeben. Schulleiter Wolfram Hirschhausen, Bezirksbürgermeister Dirk Meyer, die verantwortliche Lehrerin Kerstin Schomers und Julie Wildschutz von den Zweitzeugen e.V. waren bei der Unterzeichnung des Vertrags anwesend. Mit der Kooperation soll sichergestellt werden, dass die Geschichten der Überlebenden auch in Zukunft gehört werden und allen Schülerinnen eine lebendige Auseinandersetzung mit deren Geschichten ermöglicht wird.
Schon seit 2021 finden jährlich Zweitzeugen-Workshops am Lessing-Gymnasium statt, die über die Bezirksvertretung Bochum-Ost und den Förderverein des Lessing-Gymnasiums finanziert werden konnten. Nun wurde diese Partnerschaft mit einem offiziellen Vertrag besiegelt. So fanden auch an diesem Morgen fünf Workshops, die speziell für den 10. Jahrgang des Lessing-Gymnasiums organisiert wurden, statt. Hier standen die bewegenden Lebensgeschichten von Rolf Abrahamson und Eva Weyl im Mittelpunkt. Die Schülerinnen tauchten in die Schicksale dieser beiden außergewöhnlichen Menschen ein und erfuhren, wie sie die Schrecken des Nationalsozialismus überlebten.
Rolf Abrahamsohn wurde am 09. März 1925 in Marl geboren. Als dritter von vier Söhnen wuchs er in einer liebevollen Familie auf. Sein Vater, ein deutscher Frontsoldat des Ersten Weltkriegs, heiratete 1919 Rolfs Mutter, und gemeinsam führten sie ein erfolgreiches Textilgeschäft. Rolf Abrahamsohns Kindheit war geprägt von Glück und Unbeschwertheit. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen änderte sich alles schlagartig. Die Familie von Rolf Abrahamsohn wurde auseinandergerissen: Alle Mitglieder kamen entweder in Konzentrationslager oder starben aufgrund von Krankheiten. Rolf selbst durchlebte sieben verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager und überlebte nur knapp, wobei er am Ende auf nur noch ein Gewicht von 39 kg auf die Waage brachte. Er war als jüdischer Zwangsarbeiter im Außenlager des KZ Buchenwald in Bochum interniert und musste dort unter schwersten Bedingungen für den Bochumer Verein Arbeiten verrichten. Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen kehrte er nach dem Krieg zurück ins Ruhrgebiet, wo er eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau des jüdischen Lebens im Ruhrgebiet spielte. Er unterstützte die neugegründete Jüdische Kultusgemeinde Bochum/Herne/Recklinghausen, deren Vorsitzender er von 1978 bis 1992 war.
Die Erlebnisse seiner Vergangenheit ließen ihn jedoch nie zur Ruhe kommen. Besonders deutlich wird dies an der Vielzahl an aufwendig geknüpften Teppichen – einer Beschäftigung, der Rolf Abrahamson in vielen schlaflosen Nächten nachkam. Die Zweitzeugin Julie Wildschutz berichtet in ihrem Workshop von ihrer persönlichen Begegnung mit Rolf. Er sei ein Mann gewesen, mit dem man viel lachen konnte, den seine Vergangenheit aber auch spürbar nicht losließ. „Er überraschte uns regelmäßig mit seinem Humor.“ Es sei ein pures Geschenk gewesen, Rolf kennengelernt zu haben. Rolf Abrahamsohn starb 96-jährig nach längerer Krankheit Ende Dezember 2021.
Eva Weyl wurde am 7. Juni 1935 in Arnheim, Niederlande, geboren. Ihre Eltern waren zuvor aus Deutschland emigriert. Bald folgten ihre Großväter nach, und Eva verbrachte eine glückliche Kindheit mit ihrer Familie, bis sie 1942 ins Lager Westerbork geschickt wurden. Dort hatte sie das Glück, von ihren Eltern bestmöglich geschützt zu werden. Sie besuchte eine Schule, während die Familie mehreren Deportationen nur knapp entkam und bis zur Befreiung in Westerbork lebte. Nach dem Krieg studierte Eva Weyl in Amerika und der Schweiz, reiste viel, gründete eine Familie und arbeitete hart. Jedes Jahr feierte die Familie den 12. April, den Tag der Befreiung, der für Eva bis heute von großer Bedeutung ist. Am Ende seines Lebens besuchte ihr Vater zweimal seine alte Schule in Kleve, um seine Geschichte zu erzählen. Es war ihm wichtig, dass auch Eva die Familiengeschichte kennt und weitergibt. Heute ist es zu ihrer Lebensaufgabe geworden, jungen Menschen diese Geschichte zu erzählen. Noch immer besucht sie, soweit ihre Gesundheit es ihr ermöglicht, Schulen um ihre Geschichte persönlich weiterzugeben. Im Dezember 2018 war sie auch Besuch in der Aula des Lessing-Gymnasiums und ihre Geschichte hat einen solchen Eindruck bei den Schülerinnen hinterlassen, dass sie noch Jahre später wieder in einer Projektkurs-Arbeit wiedergegeben werden konnte. Auch der Zweitzeuge Christoph Zeevaert ist tief beeindruckt von seiner Begegnung mit Eva Weyl und davon, wie weit sie uns als völlig Fremde in ihr Leben lasse.
Die Workshops am Lessing-Gymnasium boten den Schülerinnen aber nicht nur die Möglichkeit, diese Geschichten kennenzulernen, sondern auch, sich aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, was in der Vergangenheit passiert ist, damit so etwas in Zukunft nicht mehr passiert“ erklärt eine Schülerin am Ende des Workshops.
Der Vertrag ist unterzeichnet, die Workshops werden auch in den nächsten Jahren stattfinden – und die Geschichten von Rolf Abrahamson, Eva Weyl und anderen Überlebenden werden weitererzählt werden und damit weiterleben. Denn eines ist klar: Wir sind Zweit- und Drittzeugen, wenn wir uns die Zeit dafür nehmen.
SHO